Tradition mit Zukunft

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Museum/Ausstellung | Mobilität 

documenta Kassel

Bei der documenta geht es nicht nur um die Kunst: Nicht zuletzt die vergangene, vom indonesischen Künstler:innenkollektiv ruangrupa kuratierte Ausgabe bot Gelegenheit, das Thema Nachhaltigkeit noch enger als bisher miteinzubeziehen und dauerhafte Maßnahmen anzustoßen.

Wer in Kassel von „Stadtverwaldung“ spricht, meint damit nicht in nordhessisch-weichgeformter Aussprachevariante die Einrichtungen der kommunalen Selbstverwaltung. Es geht vielmehr um eines der berühmtesten Landschaftskunstwerke der Welt, jene „7000 Eichen“, die Joseph Beuys anlässlich der „documenta 7“ ab 1982 pflanzen ließ, um den oft genug von trister Nachkriegsarchitektur geprägten Lebensraum der Stadt zu verändern – und auf spektakuläre Weise das Thema „Umweltschutz“ in die Kunst einzuführen. Wenn Andreas Hoffmann, seit 2023 Geschäftsführer der documenta und Museum Fridericianum gGmbH, und sein Team heute eine Vorbildfunktion beim Klimaschutz in kulturellen Einrichtungen einnehmen, blicken sie also auf eine lange hauseigene Tradition zurück, nun geht es ihnen aber darum, Nachhaltigkeitsstrategien im Dauerbetrieb zu verstetigen.  

Nachhaltigkeit bei der documenta fifteen Teil des kuratorischen Ansatzes

Seit 2020 ist die weltweit bedeutendste, im Fünfjahresrhythmus präsentierte Ausstellungsreihe für zeitgenössische Kunst Mitglied des Aktionsnetzwerks Nachhaltigkeit in Kultur und Medien (ANKM), einer spartenübergreifenden Anlaufstelle für Kulturinstitutionen, die sich den Klimaschutzzielen der Bundesregierung, des Übereinkommens von Paris und der 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen angeschlossen haben. Betriebsökologisch optimierte Abläufe sollen den CO₂-Fußabdruck auf ein Minimum reduzieren, geschlossene Materialkreisläufe einen schonenden Umgang mit Ressourcen gewährleisten und Verbesserungen in Fragen der Teilhabe und Barrierefreiheit für eine größere soziale Nachhaltigkeit sorgen. Wie das erfolgreich aussehen kann, hat im Jahr 2022 die „documenta fifteen“ gezeigt. Im Rückblick auf die noch unter seiner Vorgängerin Sabine Schormann ausgeführten Schau spricht Andreas Hoffmann von einer „Steilvorlage“, die die kuratierende Künstler:innengruppe ruangrupa in Form ihres Ausstellungskonzepts nach Kassel mitgebracht hat. 

Zentrale Anstöße gab dabei die aus der indonesischen Landwirtschaft stammende Praxis des lumbung – zu Deutsch: „Reisscheune“ – ein Ort, an dem die überschüssige Ernte gelagert und zum Wohl der Gemeinschaft nach gemeinsam definierten Kriterien verteilt wird. „Sich untereinander Netzwerkstrukturen, Wissen, Ideen und Programme zur Verfügung zu stellen – da sind wir ganz nahe bei den Nachhaltigkeitsthemen, die uns heute bewegen“, sagt Andreas Hoffmann.

„Das Besondere im Fall der documenta fifteen war, dass der Druck und die Anforderungen nicht von außen kamen, da die Beschäftigung mit nachhaltigem Handeln bereits im kuratorischen Ansatz enthalten war.“

Schon zwei Jahre vor dem Großereignis wurden die ersten Weichen gestellt. Zunächst ging es darum, die Ausgangslage zu analysieren sowie Aufgabenfelder, Maßnahmen und Ziele festzustecken. Ein:e  Nachhaltigkeitsbeauftragte:r steuerte die Implementierung im Betrieb, zusätzliche Beratung von außen erweiterte die Expertise.

„Wir haben in Kassel das Glück, mit der agrarwissenschaftlichen Fakultät der Universität Gießen einen Pool von echten Expert:innen in unserer Nähe zu haben“,

sagt Hoffmann und verweist auf die Zusammenarbeit mit Professor Christian Herzig und seiner Wissenschaftlichen Mitarbeiterin Kristina Gruber. Sie begleiteten nicht nur die Maßnahmen der documenta fifteen im Vorfeld, sondern führten auch eine Onlinebefragung zum Thema Nachhaltigkeit unter den Besucher:innen der documenta fifteen durch.  Neben den Erfahrungen mit dem ANKM und dem Netzwerk Initiative für Materialkreisläufe, dessen Mitglied die documenta seit 2021 ebenfalls ist, steht inzwischen auch die Künstlerin Hailey Mellin beratend zur Seite, die 2023 in Berlin die erste deutsche Dependance der international agierenden Gallery Climate Coalition „GCC“ gegründet hat. 

Mobilität als wichtigste Stellschraube für Treibhausgasreduktion

Einen großen Schwerpunkt bildeten naturgemäß die betrieblichen Abläufe, die sich – von der Ausstellungsarchitektur bis zum Angebot der Speisen und Getränke, von Technik und Barrierefreiheit bis hin zu Kommunikation und Merchandise – auf eine Vielzahl von Felder erstreckt. Neben E-Mobilität, grüner Energie und der Umrüstung auf LED führt Andreas Hoffmann z. B. die Publikationen der documenta fifteen als Beispiel an, für die auf mit dem deutschen Umweltzeichen „Blauer Engel“ zertifizierte Materialien zurückgegriffen wurde. Besondere Beachtung in der Öffentlichkeit fand der so genannte Nachhaltigkeits-Euro. Dieser wurde von den für 27 Euro für ein Tagesticket abgezweigt, um Wiederaufforstungsmaßnahmen im nahegelegenen Reinhardswald und auf Sumatra zu ermöglichen. Auch das an Schüler*innen der Offenen Schule Waldau gerichtete Pflanzprojekt „osVVertical“ profitierte von dieser Idee. Kopfzerbrechen hingegen bereitete den documenta-Verantwortlichen die Frage nach der Mobilität des Publikums. „Das Ziel der kompletten Klimaneutralität liegt bei einer Schau mit einer solchen internationalen Anziehungskraft natürlich in weiter Ferne“, sagt Andreas Hoffmann. Doch kann er auch in dieser Hinsicht schon hoffnungsvolle Signale erkennen, die ihm vor allem die im Anschluss an die documenta fifteen vorgenommene statistische Auswertung durch die Universität Gießen liefert.   

Wirklich lange Anreisewege hatten demnach nur jene rund 9 Prozent Besucher:innen, die aus dem Ausland kamen. Mit 38,8 Prozent war unter ihnen die Gruppe der Bahnfernverkehrreisenden ähnlich hoch wie unter den einheimischen Gästen (40 %), bei denen das Auto als Reisemittel an zweiter (33,7%) und der öffentliche Nahverkehr an dritter Stelle (20,1 %) stand. Dass insgesamt also mehr als 60 Prozent des Publikums auf vergleichsweise klimafreundliche Weise den Weg nach Kassel fand, ist ebenso positiv zu bewerten wie die geringe Anzahl der Flugreisen (26,2 % der aus dem Ausland stammenden Besucher:innen).

„Unser nächstes Ziel ist es, die Anreize soweit zu steigern, dass wir auf über 50 Prozent Bahnreisende kommen werden“

In Sachen Mobilität vor Ort hat die erstmalige Kooperation mit der Kasseler Verkehrs-Gesellschaft AG (KGV Kassel) dafür gesorgt, dass mit 41,4 Prozent mehr documenta-Besuchende den öffentlichen Nahverkehr nutzten als das ebenfalls klimafreundliche Fahrrad (36,7 %): Die Eintrittskarte enthielt die kostenlose Beförderung durch die KGV. 

„Das Gute ist, dass uns der Fünfjahresturnus viel Zeit gibt, unsere Klimaziele noch weiter zu schärfen und Strategien zu entwickeln, die dann bei der documenta 16 im Jahr 2027 zum Tragen kommen“, sagt Andreas Hoffmann. Auch wenn er als Geschäftsführer der documenta und Museum Fridericianum gGmbH nicht für die Auswahl der Künstler:innen zuständig ist, kann er sich vorstellen, dass die hierzu berufene Findungskommission dem Thema Nachhaltigkeit auch in der inhaltlichen Ausrichtung Rechnung tragen wird. Bis dahin wird die Aufgabe sein, die bisherigen Errungenschaften in den Dauerausstellungsbetrieb des Kasseler Museum Fridericianum und der anderen an die documenta angegliederten Räumlichkeiten weiter zu implementieren. Dass darüber hinaus schon jetzt – und ganz konkret – gesellschaftliche Interessensgruppen von den Nachhaltigkeitsbemühungen der documenta profitieren, beweist die große Nachfrage auf ein ganz besonderes Angebot im Anschluss an die letzte Ausgabe: Ganz im Einklang mit der Idee geschlossener Materialkreisläufe wurden nicht mehr benötigte Ausstellungsmaterialien kostenfrei an gemeinnützige Initiativen übergeben. 

Autor:in: Stephan Schwarz-Peters
Foto: Culture4Climate
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