Energie für die Menschheit 

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Energie für die Menschheit 

Soziokultur | Energie 

E-Werk Luckenwalde

Pablo Wendel ist eine Art Zauberer, der Kunst in Strom und Strom in Kunst verwandeln kann. In Luckenwalde hat er das stillgelegte Kohlekraftwerk wieder in Gang gesetzt, produziert dort in großem Stil klimaneutralen Kunststrom und formt den ehemaligen Industriestandort nahe Berlin nach und nach zu einem Anziehungspunkt für die internationale Kunstwelt. 

Wer kennt sie nicht, die schraubaffinen Mitmenschen, die Autos, Motorräder, Kühlschränke, Plattenspieler oder sonstige technischen Gegenstände wieder ins Leben zurückholen, von denen man dachte, sie hätten schon längst den Geist aufgegeben? Bewundernswert, doch für Pablo Wendel keine Herausforderung. Der Künstler aus Stuttgart bevorzugt es eine Nummer größer: etwa, indem er ein stillgelegtes Elektrizitätswerk wieder ans Laufen bringt. Fast 30 Jahre hatte das ehemalige Braunkohlekraftwerk im brandenburgischen Luckenwalde im Dornröschenschlaf vor sich hingedämmert, als Pablo Wendel bei einem Besuch auf den Gebäudekomplex mit dem ikonischen Verwaltungsgebäude – reinster Jugendstil – aufmerksam wurde. Auf der Suche nach einem geeigneten Raum für seine künstlerische Arbeit wollte er eigentlich das ebenfalls leerstehende Stadtbad aus dem Jahr 1928 in Augenschein nehmen, doch übte das direkt danebengelegene Kraftwerk von der ersten Sekunde eine magische Wirkung auf ihn aus. „Ich stand buchstäblich unter Strom, als ich das gesehen habe“, sagt Wendel – und nennt genau das richtige Stichwort. Denn hier dreht sich heute wieder alles um Strom; und um Kunst; und um beides gleichzeitig. Doch der Reihe nach. 

Aus Strom mach Kunst – aus Kunst mach Strom 

Das Thema Strom und Energie beschäftigt Pablo Wendel schon seit langer Zeit. An der Schnittstelle zwischen Performance und Installation nutzt er ihn nicht nur als gedanklichen Überbau seiner Arbeit, sondern fing tatsächlich irgendwann an, mit seiner Kunst Strom zu erzeugen – der wiederum selbst, als Teil des gesamten Werks, Kunst ist. Kein bloßer Strom also, sondern „Kunststrom“.

„Der Auslöser für die Idee war eigentlich Verzweiflung“.

Als gefragten Künstler überhäufte man ihn zwar mit Ruhm und Aufmerksamkeit, jedoch nicht mit Geld und so befand er sich eines Tages in der unangenehmen Situation, seine Stromrechnung nicht mehr bezahlen zu können. Kurzerhand beschloss Wendel, selbst Stromanbieter zu werden und gründete im Jahr 2012 die Firma Performance Electrics gGmbH, die Energie produziert und seitdem unter dem Label „Kunststrom“ ins öffentliche Netz einspeist. Gewonnen wird die Energie aus Kunstwerken, die Pablo Wendel – oft in Zusammenarbeit mit anderen Künstler:innen, Architekt:innen und Designer:innen – an unterschiedlichen Orten der Welt verwirklicht.  

Der Kreativität sind dabei keine Grenzen gesetzt. Auffälligen Arbeiten wie der aus recycelten Verkehrszeichen errichteten Windinstallation OFFROAD, an der A 40 nahe Dortmund, stehen guerillaartigen Performances gegenüber, etwa die in einer Art Nacht-und-Nebel-Aktion durchgeführt Stromgewinnung mithilfe einer Stuttgarter Kirchturmuhr unter dem Titel „TWENTY-FOUR / SEVEN“. Dass bei all dem auf die Nutzung klimaschädlicher Ressourcen verzichtet wird, versteht sich von selbst. Viele sehr unterschiedliche Kunststromprojekte hat Pablo Wendel bis heute realisiert, bei denen mal durchaus beachtliche Energiemengen, mal nur wenige Milliwatt erzeugt wurden. Auch wenn sich ein gewisses Augenzwinkern nicht übersehen lässt, verfolgt Wendel als Stromanbieter doch ein ernsthaftes Ziel.

Zum einen kann der eingespeiste Strom tatsächlich von Endkund:innen genutzt werden; das geschieht mithilfe der Bürgerwerke, eines Zusammenschlusses von mehr als 40.000 Bürger:innen und 99 lokalen Energiegemeinschaften, die bundesweit Menschen mit erneuerbarem Strom aus Sonnen-, Wind- und Wasserkraft versorgen.

Zum anderen fließen die erwirtschafteten Gewinne vollständig in den Ausbau neuer Energiequellen zurück. Und schließlich trägt die Versorgung mit Kunststrom zu einer Allgegenwärtigkeit der Kunst im Leben der Menschen bei – und damit zur Verbesserung und zur Verschönerung der Welt.  

Energie auch zum Wohle der Stadt 

Mit dem E-Werk in Luckenwalde, das er Ende 2017 erwarb, hat Pablo Wendel das Projekt Kunststrom auf völlig neues anderes Level gehoben. „Obwohl hier seit 1989 nichts mehr passiert ist, war die Anlage dennoch erstaunlich gut in Schuss“, schwärmt der Künstler, der hier mit seiner Partnerin Helen Turner nicht nur arbeitet, sondern auch lebt. Mit freiwilligen Helfer:innen aus aller Welt und dem Know-how ehemaliger Werksangestellter, die die Anlage wie ihre Westentasche kennen, war es dem Elektro-Autodidakten nach zwei Jahren tatsächlich gelungen, die alten Maschinen von Rost und Dreck zu befreien, kaputte Teile zu reparieren oder auszutauschen und so das Ganze wieder ans Laufen zu bringen – wie in den Tagen, als das Kraftwerk ganz Luckenwalde und die Umgebung mit Strom versorgte. Einziger Unterschied: Statt umweltverpestender Braunkohle rattern nun Holzabfälle aus den benachbarten Wäldern über die Förderbänder, um in einer Pyrolyse-Anlage im Keller zu Holzgas verarbeitet zu werden, mit dem auf klimafreundliche Weise Strom erzeugt wird. 

Die so gewonnene Elektrizität fließt ins Netz der Stadt Luckenwalde, allem voran aber deckt sie den Eigenbedarf des riesigen Gebäudes mit seiner mehrere 1.000 Quadratmeter umfassenden Grundfläche und den hohen Räumen. Nicht nur Pablo Wendel und seine Familie profitieren davon, sondern auch die Künstler:innen und Handwerker:innen, an die der Kraftwerkbetreiber und Kunststromerzeuger die restlichen zu Ateliers und Werkstätten umgebauten Räumlichkeiten vermietet.

Das Herzstück des Komplexes bildet die 350 Quadratmeter große Halle, in der einst die zur Kohlestromgewinnung notwendigen Turbinen und Generatoren standen, und die heute, wie auch die umliegenden ehemaligen Büros, als Ausstellungs- und Veranstaltungsfläche genutzt wird. Mit Helen Turner zusammen, die als Kuratorin zuvor in London lebte und arbeitete, hat Pablo Wendel das ehemalige Kraftwerk in ein Kunstzentrum verwandelt, in dem nicht nur seine eigenen Arbeiten eine Heimat finden. „Am Anfang waren die Leute natürlich skeptisch, als sie von unseren Plänen hörten“, erinnert sich Wendel. Heute ist er umso glücklicher, dass er dank seiner Vorstellungskraft und Ausdauer neben elektrischem Strom auch andere – menschliche und gesellschaftliche – Energien freisetzen kann. 

Neben einer hohen Akzeptanz unter den Menschen der Umgebung zieht das E-Werk heute namhafte internationale Künstler:innen an. Vierteljährlich präsentiert es ein Programm mit Auftragsarbeiten, Ausstellungen, Performances und begleitenden Veranstaltungen. Die hiervon ausgehende Strahlwirkung hat nicht zuletzt auch die Stadtoberen dazu inspiriert, ihren Blick auf weitere ungehobene Architekturschätze in Luckenwalde zu richten und in Projekte der ökologischen und gesellschaftlichen Nachhaltigkeit einzubinden. Wie einst das Kraftwerk, wird derzeit auch das ehemalige Stadtbad ins Leben zurückgeholt. Beide Institutionen sollen in Zukunft im Zentrum eines Campus für Kunst, Technik und Energie bilden, von dem nicht nur Impulse in die Stadtgesellschaft, sondern in die ganze Welt ausgehen sollen. Eine großartige Vision für Pablo Wendel, der ohnehin der festen Überzeugung ist, dass Kunst in Elektrizitätswerken und Schwimmbädern besser aufgehoben ist als im Elfenbeinturm. „Wir haben so viel profitiert von den Vernetzungen hier mit den Menschen, von diesem Austausch von Wissen und Erfahrung. Das wollen wir weiter ausbauen“, sagt er – und deutet damit an, dass sich nachhaltige Kunst manchmal besser abseits der großen Zentren verwirklichen lässt.   

  

     

Autor:in: Stephan Schwarz-Peters
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