Wenn es Ludwig van Beethoven in die Natur trieb, um dort Inspiration für seine Musik zu suchen, stieß er in der ländlichen Umgebung Wiens auf saubere Luft, den Gesang einer artenreichen Vogelwelt und Bäche, die in höchster Wasserqualität vor sich hinmurmelten. All dies schildert mit musikalischen Mitteln die 6. Sinfonie des Genies, die so genannten Pastorale, in einer ebenso episodischen wie universellen Naturbetrachtung. Wie würde das Stück heute klingen, hätte Beethoven die Folgen eines menschengemachten Klimawandels zu spüren bekommen? Als sich der Kulturunternehmer und Cellist Steven Walter für die Intendanz des Bonner Beethovenfests bewarb, hatte er u. a. diese Frage zu seinem Bewerbungsgespräch mitgebracht. „Beethoven war ein universeller Geist, der in seinem riesigen Werk praktisch alles mitgedacht hat, was uns heute beschäftigt“, sagt er, „und an vorderster Stelle steht hier natürlich der Klimawandel. Der geht jeden auf der Welt etwas an.“
NEUAUSRICHTUNG DES TRADITIONSREICHEN FESTIVALS
Als Steven Walter die Intendantenstelle beim traditionsreichen, 1845 von Franz Liszt initiierten Festival übernahm, richtete er es neu aus. Natürlich steht immer noch die Musik im Vordergrund und mit ihr, jährlich im Frühherbst, eine Reihe von Konzert- und anderen Veranstaltungen rund um das Werk Ludwig van Beethovens. Darüber hinaus spielen nun auch die großen Fragen der Gegenwart eine Hauptrolle im Programm, denn ihnen kann sich die Kunst – so die Überzeugung des gesamten Festival-Teams – heute nicht (mehr) entziehen. Beleuchtete das Beethovenfest 2022 das Themenfeld Diversität und ihre Anforderungen im klassischen Konzertleben, rückte im Jahr darauf unter dem Motto „Musik über Leben“ der Komplex Nachhaltigkeit in den Fokus. Die Grenzen der eigenen Handlungsmöglichkeiten sind dem Intendanten bewusst. „Mit Musik können wir die Klimakrise nicht lösen“, sagt er. „Aber sie kann das Bewusstsein verändern und den Besuchenden Denkanstöße geben.“ Vor allem durch sinnliche Erlebnisse, wie sie das Programm der Festivalausgabe 2023 in großer Zahl zu bieten hatte.
“SYMPHONY OF CHANGE“
Neben künstlerischer Exzellenz und Zugkraft wurden bei der Auswahl vor allem solche Musiker:innen und Ensembles berücksichtigt, die das Thema Nachhaltigkeit schon jetzt in ihrer Arbeitsweise berücksichtigen, ihm künstlerisch Raum geben und dabei neue Wege in der Publikumsansprache gehen.
Besonderen Eindruck hat in diesem Zusammenhang der Auftritt des Stegreif.Orchesters hinterlassen, eine Gruppe aus rund 30 internationalen Musiker:innen, die nicht nur neue Formen des Musizierens ausprobiert, sondern sich allgemein auf die Idee von Gleichberechtigung, Teilhabe und – fast schon ein Pleonasmus – Nachhaltigkeit beruft. Ihre „symphony of change“ wurde beim Beethovenfest 2023 uraufgeführt, eine performative Auseinandersetzung mit den 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen. Der kompletten „symphony of change“ vorangegangen waren Teilaufführungen im gesamten Bundesgebiet. Künstlerischer Gehalt und Produktionsbedingungen bildeten dabei eine beispielgebende Einheit. Neben der emissionsarmen Tourplanung, bei der u.a. vollständig auf Flugreisen verzichtet wird, und der regenerativen Probengestaltung führten die Musiker:innen des Stehgreif.Orchesters auch Workshops durch, darunter im März 2023 einen für Bonner Schüler:innen, in dem gemeinsam nach neuen Möglichkeiten für nachhaltiges Musizieren gesucht wurde. So konnte das Thema nicht nur künstlerisch, sondern auch im direkten Austausch vertieft werden.
Dass sich die Transformation des Beethovenfests nicht nur auf experimentelle Darstellungsformen wie den von Interaktion und Improvisation geprägten Auftritt des Stehgreif.Orchesters erstreckt, sondern auch herkömmliche Konzertformate mit einschließt, ließ sich u.a. beim Klavierabend der deutsch-griechischen Pianistin Danae Dörken nachvollziehen. Der unbeschwerten Naturbetrachtung „klassischer“ Komponist:innen – Robert Schumanns „Waldszenen“ etwa – stellte sie mit Fazıl Says Klavierstück „Schwarze Erde“ einen zeitgenössischen Kommentar zur Ausbeutung lebenswichtiger Rohstoffe gegenüber. Auch damit eröffnete sich einen diskursiven Raum, der weit über das Musikalische hinausführte. Abseits der rein künstlerischen Beiträge förderte das Beethovenfest auch durch sein umfangreiches Begleitprogramm die Auseinandersetzung mit Nachhaltigkeitsthemen, allem voran in den Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen in der zur Festivalzentrale umfunktionierten Kreuzkirche. Hier sorgten nicht zuletzt prominente Teilnehmende wie der schweizerischen Dramatiker und Autor Lukas Bärfuss oder der Comedian Eckhart von Hirschhausen für einen großen Zulauf.
Nachhaltigkeit und Klimaschutz im Festivalbetrieb
Dass Steven Walter und seine Mitarbeiter:innen mithilfe der Musik nicht nur andere Menschen zu einem nachhaltigen Handeln animieren, sondern auch ihren eigenen Beitrag im Kampf gegen den Klimawandel leisten möchten, versteht sich bei einer so engagierten Betrachtung des Themas von selbst. Das Ziel: weiterhin große Kunst zu bieten und dabei so emissionsarm wie möglich zu sein.
„Natürlich muss man mit dem Begriff klimaneutral sehr vorsichtig sein. Eine internationale Veranstaltung, die nicht nur Künstler:innen aus aller Welt einlädt, sondern auch ein großes Publikum anzieht, könnte einen solchen Anspruch niemals zu 100 Prozent erfüllen.“
Doch wie erfolgreiche Beispiele zeigen, haben Akteur:innen der Kulturbranche zahlreiche Möglichkeiten, ihren Betrieb klimafreundlicher zu gestalten – sei es durch die Optimierung von Energieverbrauch und Mobilität oder das Einhalten von Materialkreisläufen. Das Beethovenfest selbst setzt schon seit Jahren u.a. auf Kompensation, etwa der CO2-Emissionen, die durch festivalbegleitende Print- und Onlinemedien frei-gesetzt werden. In Zukunft sollen Nachhaltigkeit und Klimaschutz aber noch stärker und systematischer in den Festivalbetrieb integriert werden. Nicht zuletzt orientiert sich das Beethovenfest dabei an der Klimastrategie der Stadt Bonn, die bis 2035 klimaneutral werden möchte.
Um das zu gewährleisten, haben sich der Intendant und sein Team an die Expert:innen des Öko Instituts gewandt, das als Teil der Initiative Culture4Climate eine umfangreiche Beratung bietet und das Beethovenfest zunächst bei der Erstellung einer CO2-Bilanz unterstützt – Beginn eines Prozesses, an dessen Ende die Reduktion von klimaschädlichen Emissionen und die Zertifizierung als klimaneutrales Musikfestival stehen soll. Im Kleinen hat das Beethovenfest eine solche Evaluierung bereits vor-genommen: mit der entsprechenden Auswertung des Abschlusskonzerts der Festivalausgabe 2022. Schon dabei hat sich der mammutöse Umfang der Aufgabe gezeigt. Denn da das Beethovenfest selbst nicht über eigene Spielstätten verfügt, müssen viele Zahlen von dritter Seite eingeholt, mitunter auch hochgerechnet werden. Doch schon vor dem Vorliegen der Gesamtbilanz und der Ausarbeitung einer entsprechenden Strategie, haben die Festivalmitarbeitenden erste Nachhaltigkeitsmaßnahmen in ihren Betriebsalltag integriert. Denn nicht nur durch sein Programm, sondern auch durch das eigene proaktive Handeln möchte das Beethovenfest Menschen zum Nach- und Mitmachen animieren.